2014

PAD/ZfA
Serbien

Nächstenliebe in Subotica

Lisa Santjer war für sechs Monate mit PAD/ZfA im serbischen Subotica tätig.

Wohin? Egal. Hauptsache weit weg!

Eine Einsatzstelle in Serbien! Serbien? Als ich diese Zeile in der lang erhofften E-Mail lese, entgleiten mir kurzzeitig meine Gesichtszüge und ich schaue mit großen Augen in das ähnlich ratlose Gesicht meiner Mutter. Serbien sagte mir zu diesem Zeitpunkt so gar nichts. Und in der darauffolgenden Zeit traf ich immer öfter auf Menschen, denen bei dem Gedanken daran höchstens Schlagworte wie "Ex-Jugoslawien" und "Balkankrieg" einfielen. Nachdem ich trotzdem die – wie ich heute weiß – absolut richtigste Entscheidung gefällt hatte, kulturweit und damit auch Serbien zuzusagen, war nun die häufigste Reaktion darauf ein ungläubiges "Was willst du denn da?". Allein war ich also nicht damit, kaum etwas über ein gar nicht so weit entferntes Land und eine Region zu wissen, die sogar noch auf unserem Kontinent liegt. Eher im Gegenteil. Aber allein diese Tatsache machte mich auf Dauer immer neugieriger.

So nah und doch so fern – Oder andersrum?

Zugegebenermaßen war mein Interesse an Mittel-, Süd- und Osteuropa (MSOE) vor knapp einem Jahr nicht sehr ausgeprägt. Aber umso stolzer sage ich jetzt, dass ich als kulturweit-Freiwillige in der MSOE-Region war und fühle mich ein wenig als Botschafterin Serbiens und des Balkans. Heute möchte ich Menschen für mein sechsmonatiges Zuhause begeistern und die Wissenslücken füllen. Denn obwohl es beim ersten Blick vielleicht nicht so erscheinen mag, gibt es dort viel Neues, auch Wundervolles zu entdecken und ich konnte hinsichtlich meines Lebens in Deutschland einiges lernen.

Wohin? Egal. Hauptsache weit weg! Das war nicht nur mein Motto, wenn ich an traumhafte Landschaften und andere Kulturen dachte. Ein halbes Jahr später und viele Erfahrungen reicher, machen mir die Gespräche mit anderen kulturweit-Freiwilligen, die "weit weg" waren, eines klar: Sie haben gerade an Orten, die aus der Ferne nur so vor Andersartigkeit zu sprudeln scheinen, eben die nicht erlebt. Ich wiederum wurde vom Gegenteil überrascht: Ich habe in einer Kultur, die mir zuerst gar nicht so "anders" erschien, Menschen mit einer ganz unterschiedlichen Mentalität und anderen Problemen kennengelernt und Landschaften sowie Städte gesehen, die mich mit ihrer Schönheit oder Eigenart total überrascht haben.

Subotica: Eine Empfehlung der New York Times

Dazu gehört auf jeden Fall auch das serbische Städtchen Subotica, das mir innerhalb eines halben Jahres zu meinem zweiten Zuhause geworden ist. Nie hätte ich hier eine so beeindruckende Synagoge erwartet, die sogar die drittgrößte der Welt sein soll. Ich hätte auch kein Rathaus erwartet, das so schön ist, dass mir allein sein Anblick jeden Tag aufs Neue die Laune retten konnte. "Klein, aber fein" trifft auf die Fassaden der fünftgrößten serbischen – früher ungarischen – Stadt vollkommen zu. So waren auch alle meine Besucher*innen völlig von den Socken und Subotica schaffte es sogar unter die 52 Orte, die man laut der New York Times 2014 gesehen haben sollte.

Wunderschön hier wohnen zu dürfen, aber umso schmerzhafter, es zugleich verfallen zu sehen: An allen Ecken und Enden fehlt das Geld. "Korruption" ist die gängige Begründung meiner Mitbürger*innen auf Zeit für fast alle gesellschaftlichen und politischen Probleme,für Armut und Arbeitslosigkeit. In Subotica wurde sie für mich zum ersten Mal wirklich spürbar. Natürlich war ich nie direkt betroffen. Nicht in meiner Position, irgendwo in einer Sphäre zwischen der deutschen und serbischen Kultur, die ich Geld und Möglichkeiten aus meiner Heimat sicher hatte. Und doch bedrückte es mich sehr mitansehen zu müssen, dass das so dringend gebrauchte Geld in die falschen Taschen zu fließen schien.

Beeindruckt bin ich dann wiederum, wie die Menschen in Serbien mit solchen essentiellen Problemen umgehen können... Als meine Kollegin einmal sah, wie ich beim Anblick einer Rechnung mein Gesicht verzog, sagte sie mir, dass Serb*innen in solchen Situationen immer anfingen zu lachen: Die Rechnung könne doch sowieso nicht bezahlt werden. Klingt unlogisch. Aber was ich mir in Serbien lange abgewöhnen musste – eigentlich aber nie ablegen konnte – war, alles mit meiner von Deutschland geprägten Logik zu bewerten.

Lisa Santjer beim Unterricht im Kindergarten

Slava … und plötzlich Teil der Familie

Undenkbar wäre das Leben in Serbien ohne den Zusammenhalt der Menschen, den ich mir oft auch für Deutschland wünsche. Die Menschen gehen so herzlich und offen miteinander um, dass zum Beispiel meine Kolleginnen schnell nicht nur die Menschen waren, mit denen ich gerne zusammengearbeitet habe, weil sich jede Mühe gab, der anderen so oft wie möglich eine Freude zu machen. Sie konnten mir außerdem bald an der Nasenspitze ablesen, wie es mir geht, und halfen mir in jeder erdenklichen Lebenslage. Ich habe mich in Serbien nie alleine gefühlt. Nicht nur aufgrund vieler neuer Freund*innen, sondern auch, weil ich schnell eine Ersatzfamilie gefunden hatte.

Vergessen werde ich nie, wie meine Kollegin mich ohne Zögern ins Auto setzte und zu ihrem Slava, dem orthodoxen Fest zu Ehren des Familien-Heiligen, mitnahm, nur weil ich ihr erzählt hatte, dass ich so etwas auch gerne einmal miterleben würde. Obwohl ich ziemlich verunsichert als einzige Fremde zu diesem Fest kam, wurde ich fast augenblicklich Teil der Familie und wäre, wenn es nach den Vätern gegangen wäre, direkt mit allen anwesenden Söhnen verlobt. So gerne hätte ich die Hilfsbereitschaft und Offenheit der Menschen mit in meinen Koffer gepackt und nach Deutschland gebracht.

Und doch habe ich das "Deutschsein" oft als ein Privileg schätzen gelernt. Erstens öffnet es dir in der Welt manchmal Tür und Tor und zweitens kann ich in meinem Heimatland ohne existenzielle Probleme leben. Den Serb*innen bleibt zum Teil nichts anderes übrig, als ihre – zu Recht geliebte – Heimat zu verlassen, weil sie oft trotz eines akademischen Abschlusses wenig Chancen sehen, ein finanziell abgesichertes Leben zu führen. Ausgebildete Lehrer*innen kellnern im Ausland, weil das Gehalt dreimal höher ist als das an einer serbischen Schule. Nicht übertrieben und auch kein Einzelfall.

Alles ist relativ. Auch Entfernung

Während meines Freiwilligendienstes habe ich es mir natürlich nicht nehmen lassen, möglichst viel zu reisen. Meine Wochenenden, Feiertage und Urlaubstage waren ziemlich schnell verplant. Blöd nur, wenn man tolle Pläne schmiedet, aber vergisst, dass Busse und Bahnen mitunter nur sehr gemächlich vorankommen. So kam es, dass wir am Donnerstag in Istanbul saßen und erkennen mussten, dass allein die Rückreise 35 Stunden dauern sollte oder sich eine 150 Kilometer entfernte Stadt nicht unter neun Stunden erreichen ließ. Leider konnte ich so nicht alle Orte sehen, die ich mir vorgenommen hatte. Dafür fand ich zwischen reisen und warten eine gute Gelegenheit, mich in Geduld, aber auch Spontanität zu üben.

Trotz aller Schwierigkeiten war die äußerst kostengünstige Sportart kulturweit-Couchsurfing unter Freiwilligen sehr beliebt. So wurden aus flüchtigen Bekannten vom Vorbereitungsseminar schnell wirklich gute Freund*innen für mich. Und so kam es auch, dass das Weihnachtsfest, das ich mir nie ohne meine Familie vorstellen konnte, fast familiärer wurde als je zuvor: mit drei anderen Freiwilligen in meiner Wohnung in Subotica. Komisch, dass wir nun im Ausland viel mehr Wert auf Traditionen und Heimeligkeit legten und das Fest der Liebe viel liebevoller feierten, als zumindest ich es sowieso schon gewohnt war.

Tu es

Nun ist es vorbei – das wurde mir erst so richtig nach dem Nachbereitungsseminar bewusst. In Serbien hatte ich eine eigene Wohnung, eine tolle Arbeit, neue Freund*innen und eine zweite Familie zurückgelassen. Doch irgendwie fiel es mir fast schwerer, mich von kulturweit zu verabschieden. So wie Serbien Teil meiner Identität geworden ist, so war es auch das kulturweit-Gefühl, denn ein kulturweit-Freiwilligendienst ist mehr als ein einfacher Auslandsaufenthalt.

Tu es, denn […] natürlich verändert es dein Leben!