Eigentlich sollte jetzt ein ganz normaler Bericht über meinen sechsmonatigen Freiwilligendienst mit kulturweit mit den dazugehörigen Beschreibungen über den Arbeitsalltag im Goethe-Institut in Istanbul und mein Leben in der Türkei folgen. Aufgrund der politischen Ereignisse der letzten Mai-Woche 2013 habe ich mich jedoch entschieden, über meine Erfahrungen im Zusammenhang mit den aktuellen Protesten zu berichten.
Wer bist du?
Ich bin ein Deutsch-Türke. Nein, Moment: Deutscher mit Migrationshintergrund. Wobei ich auch nie irgendwohin migriert bin. Ich wurde in Berlin geboren. Also doch ein gebürtiger, türkischstämmiger Berliner? Ich konnte noch nie sagen, wie sehr ich mich als Türke oder als Deutscher bezeichnen würde. Genau genommen hatte der türkische Teil meiner Identität in meiner Jugend nur eine sehr geringe Bedeutung. Ich wollte mich nie wirklich mit meiner Herkunft auseinandersetzen und auch die Verwandten in der Türkei nur so kurz wie möglich besuchen. Meine "deutschen" Kumpels waren sogar der Meinung, ich sei sehr deutsch. Hätte man mich gefragt "Wer bist du?", hätte ich mit "Ich bin ein Deutscher" geantwortet. Vor meiner Ausreise nach Istanbul wurde ich oft gefragt, wieso ich gerade in die Türkei gehen möchte, wenn es doch auch Möglichkeiten gäbe, etwas komplett anderes kennenzulernen. Doch mein Gefühl, zu wenig über meine "Herkunft" zu wissen und mich zu wenig mit ihr auseinandergesetzt zu haben, war ein guter Grund, diesen Schritt mit kulturweit zu gehen.
Istanbul berührt mich mit ihren Schönheiten und Schrecklichkeiten
Istanbul ist für mich eine vibrierende und melancholische Großstadt. Sie ist maritim, sanft umschlossen vom Bosporus, dem Mittelmeer und dem Schwarzen Meer. Ich kann schwer in Worte fassen, wie es sich anfühlt in dieser Stadt zu leben. Sie berührte mich mit ihren Schönheiten und Schrecklichkeiten: wunderschöne antike Bauten aus byzantinischen und osmanischen Zeiten, die mich mit ihrer historischen Bedeutung und Größe zugleich bedrückten und staunen ließen. Dies neben hochkommerzialisierten Stadtteilen mit unzähligen, gigantisch anmutenden Shoppingmalls, Einkaufsstraßen, Kinderarbeit und einer schieren Masse an Menschen. Die Vielzahl von Eindrücken hinterließ bei mir manchmal ein Gefühl der Überforderung.
Mein Berlin in der Türkei
Als Berliner würde ich sagen: Istanbul ist das Berlin der Türkei. Nirgendwo sonst habe ich bisher so viele Künstler, Musiker und Freidenker – so viele Studierende, Alternative, Hipster und politisch engagierte junge Menschen getroffen. Sei es bei einem Spaziergang durch das Szeneviertel Cihangir oder das allmorgendliche "Angegrunzt-werden" bei meinem Simit-Bäcker: vieles erinnerte mich sofort an meine Heimatstadt Berlin. Auch bei Gesprächen mit meinen Freunden in Istanbul wurde mir immer wieder bewusst, dass es viele Überschneidungen und Parallelen in der Sichtweise junger Leute gibt – ob Sorgen oder Wünsche. Wo stehe ich im Leben? Was ist meine Berufung? Macht das, was ich alles mache, überhaupt Sinn? Oft spürte ich eine gewisse Orientierungslosigkeit und erlebte gleichzeitig ein Engagement für Kunst oder Politik.