Erwartungenübertroffen
Vom Deutschunterricht an der Schule, der Erkundung der estnischen Natur oder dem gemeinsamen Backen traditioneller Speisen - Nora hat in ihrem Freiwilligendienst einiges erlebt. Die Vielfalt des Landes hat ihre Erwartungen dabei weit übertroffen.
Den Start in meinen 6-monatigen Auslandsaufenthalt habe ich mir ehrlich gesagt anders vorgestellt. Endlich gab es die Aussicht auf Lockerungen in Deutschland. Endlich war ein winziges Stück Freiheit in greifbarer Nähe. Und genau jetzt startet meine Reise nach Estland, wo ein Tag vorher der Lockdown begann. Wenn ich es mir allerdings genau überlege, bin ich ganz froh, dass ich zu Beginn von zuhause aus arbeiten kann. Bei so frostigen Temperaturen und so viel Eis und Matsch auf den Straßen möchte ich am liebsten sowieso nicht raus.
Umso schöner war es freudestrahlend vom Team der deutschen Abteilung begrüßt zu werden. Ich wurde direkt in einige Projekte involviert und habe zudem in einigen Klassen hospitiert, um auch die Schüler*innen etwas besser kennenzulernen. An dieser Stelle muss ich allerdings anmerken, dass dies aufgrund der digitalen Lehre nur bedingt möglich war. So wie ich das aus Seminaren an der Uni kannte, war es auch in den Zoom-Stunden am TSG. Es ist sehr leicht sich zurückzulehnen und wenig zu partizipieren, wenn man vor einem Bildschirm sitzt. Umso schwieriger ist es natürlich für die Lehrer*innen, welche mit aller Kraft versuchen, den Schüler*innen durch diese anstrengende Zeit zu helfen. Ich habe festgestellt, dass diese Form des Unterrichts für beide Seiten belastend und nervenaufreibend war. Eine weitere Herausforderung bestand darin, die Wettbewerbe, die bisher immer in Präsenz stattgefunden haben, nun in digitaler Form durchzuführen. Das erste Projekt war der Vorlesewettbewerb der fünften und sechsten Klassen. Gemeinsam mit den Schüler*innen übte ich das Vorlesen, um sie auf den Wettbewerb vorzubereiten. Das war meine erste Aufgabe, die ich ganz allein zu bewältigen hatte. Ich merkte sofort, dass das Lesetraining mir und den Schüler*innen viel Freude bereitete. Nach einer Vielzahl von Absprachen und Überlegungen war klar, dass die digitale Durchführung zwar mit Aufregung verbunden sein würde, aber alles problemlos klappen sollte. Und so war es dann auch. Fast zeitgleich fand das Schulverbundfinale von Jugend debattiert statt. Auch hier war es für alle anfangs ungewohnt dies in einer anderen Form durchzuführen. Besonders begeistert war ich von der Möglichkeit, dass die Lehrkräfte ihren Unterricht gegenseitig hospitieren können. In den Schulen, in denen ich bisher war, haben sich einige Lehrer*innen in ihrem Stolz verletzt gefühlt, wenn bei Ihnen hospitiert werden sollte. Ich sehe darin allerdings eine geeignete Möglichkeit, um sich auszutauschen und den eigenen Unterricht stetig zu verändern und zu optimieren.
Neben den abwechslungsreichen Projekten in der Schule habe ich noch einige Klausuren für die Uni geschrieben und Estnisch-Unterricht bei der Leiterin des Kulturinstituts genommen. Diese Aufgaben haben mich zu Beginn recht stark vereinnahmt, aber aufgrund des Wetters war es ohnehin kaum möglich die Umgebung zu erkunden. Stattdessen habe ich regelmäßig die Schwimmhalle und Sauna der Schule genutzt, um einen Ausgleich zur Arbeit zu haben. Hin und wieder habe ich mich auch mit den anderen Kulturweit-Freiwilligen aus Tallinn getroffen, um gemeinsam Erfahrungen auszutauschen und Erlebnisse zu reflektieren. In den Ferien im April hatte ich das erste Mal länger Zeit, um Tallinn und Umgebung unter die Lupe zu nehmen. Mit den anderen Praktikant*innen des TSG besuchte ich Tartu und wir fuhren gemeinsam zum Sooma Nationalpark, um zu wandern und zu paddeln.
Im Mai konnte ich mein Glück kaum fassen. Nachdem ich zum Teil im Präsenzunterricht der Grundschule bei Übungen zur mündlichen Kommunikation unterstützt habe, wurden auch die älteren Schüler*innen zurück in die Schule geholt. Der Traum vom Präsenzunterricht wurde wahr. Von Anfang an hatte das Thema „Unterrichten in der Schule“ in den Sternen gestanden, da die COVID-Zahlen in Estland zwar sanken, aber nach wie vor recht hoch waren. Jetzt half ich bunt gemischt in allen möglichen Klassenstufen. Im Grundschulbereich war die Nachfrage der estnischen Deutschlehrer*innen steigend, ich half bei den Lesefüchsen in den höheren Klassen und plante mit der Kulturweit-Freiwilligen vom KSG eine Schnitzeljagd für die Klassenstufe 6. Die Ereignisse überschlugen sich. Neben der Schule passte ich auf die drei lebhaften Töchter eines Lehrers auf, was mir jedes Mal aufs Neue Freude bereitete. Beinahe rund um die Uhr war ich von Kindern und Jugendlichen umgeben und bemerkte, wie erfüllend aber auch anstrengend die Arbeit an einer Schule sein kann. Ich denke ich habe ein gutes Bild davon bekommen, was alles dazu gehört, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.
Anfang Juni, kurz vor dem Beginn der Sommerferien, begann die Planung für mein Freiwilligen-Projekt: das Sommercamp. Gemeinsam mit der Schulleitung, der Leitung der deutschen Abteilung und der Ganztageskoordinatorin plante ich drei Tage gefüllt mit Spielen, Kochen und kreativen Methoden – natürlich alles auf Deutsch. Nach den Planungstreffen im Juni war ich mit dieser Aufgabe mehr oder weniger auf mich allein gestellt und vollendete die Feinplanung während der Ferien.
Eine besonders gute Empfehlung war das Kulturprogramm „culture step“. Zu Beginn der Ferien brachte es mich den estnischen Bräuchen und Traditionen näher und ich lernte unglaublich viel über die Geschichte, das Essen, die Stadt und die Erfindungen von Estland. Ich besuchte zahlreiche Exkursionen und hatte auch hin und wieder die Möglichkeit meine Estnisch-Kenntnisse unter Beweis zu stellen. Genauso bunt und abwechslungsreich wie das Programm, sind auch meine Erinnerungen an diese Zeit.
In den Ferien hatte ich neben der Planung des Sommercamps ausreichend Zeit, um zu sehen, wie in Estland jaanipäev gefeiert wird und andere Ecken Estlands kennenzulernen. An einem Wochenende war ich mit der Kulturweit-Freiwilligen vom Goethe-Institut und zwei Freundinnen aus Frankreich in Narwa, direkt an der russischen Grenze. Wir entdeckten das Schloss in Rakvere und übten uns dort im Bogenschießen und Töpfern. Im Juli hatte ich Besuch von Freunden, welchen ich meine Lieblingsorte und -ecken in Tallinn und Estland zeigte. Gemeinsam fuhren wir nach Rummu in das Unterwassergefängnis und probierten uns im Schnorcheln. Eine weitere Woche verbrachte ich mit einer Freundin in Riga. Auf dem Rückweg nach Tallinn machten wir halt in Viljandi, um dort die sommerliche Atmosphäre des Volksmusik-Festivals zu genießen. Ich muss sagen, dass die Erfahrungen und Erlebnisse in Estland meine Erwartungen (ich hatte kaum welche, es hätte ja alles noch ins Wasser fallen können) bei Weitem übertroffen haben. Niemals hätte ich gedacht, dass der estnische Sommer so vielfältige und einzigartige Ereignisse und Abenteuer bereithält. Ich habe mit Sicherheit auch einige (wichtige) Projekte, Aufgaben und Erlebnisse vergessen. Es waren einfach zu viele, um sich jetzt noch an alles detailliert erinnern zu können.
Anfang August bekam ich noch eine Anfrage für ein weiteres Deutschcamp in Kloogaranna. Dort unterstützte ich die Lehrer*innen des Feriencamps bei Vokabelsessions, Spielen und vielem mehr. Im Fokus dieser vier Tage stand in diesem Jahr das Thema Wald. Während die Teilnehmenden ihren Waldwortschatz in Deutsch verbesserten, verbesserte ich meinen in Estnisch. Gemeinsam wurde gebastelt, gegrillt und Stockbrot gemacht. Nach diesem Camp fühlte ich mich nun gewachsen, mein eigenes Sommercamp zu leiten. Mitte August war es dann so weit. Eine Mischung aus inhaltlichen Einheiten, kreativen Elementen und Spielen sollte die Schüler_innen auf Trab halten. Ein tägliches Highlight stellte das gemeinsame Kochen des Mittagessens dar. Besonders viel Freude bereitete zudem das Planspiel zum Thema Alkoholprävention, bei dem wir am zweiten Tag eine richtige Party simulierten (natürlich ohne Alkohol). Ich hoffe, dass die Schüler*innen dabei genauso viel gelernt haben wie ich. Am letzten Tag des Sommercamps wurde ich dann herzlich von dem liebgewonnenen Team des TSG verabschiedet. Ein großartiger Abschluss dieser sechs Monate, die wohl kaum aufregender hätte sein können.
In dieser Zeit habe ich gelernt meine Stärken im schulischen Kontext einzusetzen und meine Kreativität zu nutzen, um abwechslungsreiche Unterrichtsideen zu entwickeln. Ich bin an Herausforderungen gewachsen und habe große Projekte wie das Sommercamp nahezu eigenständig geplant und durchgeführt. Vielen Dank an dieser Stelle für eure Unterstützung! Zudem habe ich gemerkt, wie unfassbar schwierig es ist, jedem gerecht zu werden und heterogene Lerngruppen zu unterrichten. Ich habe auch gelernt, dass es hin und wieder Zeit für eine Pause ist, man sich genug Zeit für sich selbst nehmen sollte und wie ich meine Grenzen kommunizieren kann. Überrascht war ich vor allem von der offenen und lockeren Stimmung im Kollegium. Ich habe gesehen, wie gut es tut, wenn man sich gegenseitig unterstützt und füreinander da ist. Ich bin dankbar dafür, dass ich mich mit allen Fragen an euch wenden konnte.
Ich bin sehr froh, dass sich meine Erinnerungen und Gedanken an Estland so viel wärmer und sonniger anfühlen, als das Wetter als ich in Tallinn angekommen bin und hoffe, dass ich noch einmal zurückkehren werde.
