Mein Jahrin Sarajevo
Ellen wusste von zu Anfang ihres Freiwilligendienstes ziemlich wenig. Sechs Monate später ist aus Fakten ein bunter Strauß an Erfahrungen, Bildern und Begegnungen geworden, die sie nicht vergessen wird.
Spärliche Fakten der Vergangenheit
Sarajevo – Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 mit dem Attentat auf Franz Ferdinand, Olympische Winterspiele`84, ehemaliges Jugoslawien, Bosnienkrieg in den 90ern. Habt ihr mehr Assoziationen, wenn ihr den Namen dieser Stadt hört? Ich hatte sie vor meiner Abreise im Sommer 2019 jedenfalls nicht. Was meinen Freund*innen und meiner Familie zu der Stadt einfiel, die für die nächsten 6 Monate mein Zuhause sein sollte, waren ebenfalls die gleichen spärlichen Fakten aus der Vergangenheit.
Ein Blick aus dem Fenster
Jetzt, ein halbes Jahr später, sitze ich in meiner WG, 200 Meter vom Sebilj, dem berühmten Brunnen im Zentrum der Baščaršija, dem osmanisch geprägten Teil Sarajevos, am Fenster in der Sonne und blicke auf die Stadt. Der Muezzin ruft.
Von diesem Ausblick kann ich seit meiner Ankunft Mitte September nicht genug kriegen.
Ich habe noch nie so viele atemberaubende Sonnenuntergänge, aber auch noch nie so viel Smog in meinem Leben gesehen, wie an diesem Fenster. Luftverschmutzung ist leider besonders im Winter ein enormes Problem in Sarajevo, weil einerseits sehr viel mit Kohle geheizt wird, andererseits Hochhäuser zu dicht aneinander gebaut wurden, sodass die Luft sich anstaut und auch die grundsätzliche Lage der Stadt, in einem Kessel, umringt von Bergen, macht eine Luftzirkulation nur bedingt möglich.
Was aber auch durch den Smog immer zu erahnen bleibt und an sonnigen Tagen in Gänze erstrahlt sind die Minarette und Kirchtürme, die den ganz besonderen Schatz dieser Stadt verbildlichen. Das kleine Jerusalem wird Sarajevo auch genannt. So viele Religionen leben hier miteinander, nebeneinander - momentan leider auch teilweise gegeneinander.
Gegen den Strom
Bei meiner Arbeit am Goethe-Institut habe ich ein Deutsch-Bosnisch-Tandem angeboten. Dadurch hatte ich die Chance, Menschen unterschiedlichen Alters und aller hier vertretenden Ethnien kennenzulernen und ihre Geschichten zu hören. Deutsch lernen in BiH viele Menschen, weil sie es entweder als Flüchtlinge in den 90ern in Deutschland gelernt haben, oder es jetzt am Goethe-Institut lernen.
„Warum machst du dein FSJ ausgerechnet hier in BiH (Bosnien und Herzegowina)?“, „Wirklich, du lernst B-K-S“? (B-K-S = Bosnisch, Kroatisch, Serbisch – die Sprachen ähneln sich im größten Teil des Wortschatzes und in wesentlichen grammatischen Strukturen.) Solchen Fragen bin ich oft begegnet. Nach einigen Gesprächen verstand ich, dass sich auf Grund der politischen und gesellschaftlichen Lage momentan enorm viele Menschen aus BiH dafür entscheiden, nach Deutschland zu gehen, um sich dort eine Zukunft aufzubauen. Warum ich als Deutsche dann quasi in die entgegengesetzte Richtung laufe und mich auch für die Sprache interessiere, stieß zunächst oft auf Verwirrung, schnell aber auch auf Freude und Stolz, dass es auch andersherum gehen kann.
Neben dem Sprachtandem habe ich vor allem in der Kultur-Programm-Arbeit mitgearbeitet. Ich habe etliche Veranstaltungen miterlebt, mitgeplant und fotografisch begleitet, Berichte geschrieben, durfte ein Booklet designen und habe viele Menschen aus anderen kulturellen Institutionen und Botschaften kennengelernt.
Was von meinen anfänglichen Fakten bleibt und was dazugekommen ist:
Ein sehr unspektakulärer Ort des Attentats auf Franz Ferdinand, eine verrostete Bobbahn der Winterspiele`84, entlang derer man aber tolle Spaziergänge machen kann, viele Gespräche mit Bosnier*innen über die Zeit des belagerten Sarajevos während des Krieges UND eine Kaffeekultur erster Sahne, die tollsten Wasserfälle und Skigebiete, grüne Hügel und 24 Kilometer Adria Küste, Feiern in bester Gesellschaft in ehemaligen Kinos, jetzt Clubs und Bars, Pita und Granatäpfel en masse und vor allem Menschen, die gern erzählen, einen unerschütterlichen Humor haben und mir nie das Gefühl von Einsamkeit gegeben haben.
Nichts kommt, wie geplant und das ist auch nicht schlimm.